Alcatraz ist neben der Area 51 und Ground Zero einer der sagenumwobensten Orte der USA. Zuviele Fakten, Mythen und Geheimnisse ranken sich um diesen Ort, als dass man sie alle in einen Fließtext packen könnte ohne Euch zu erschlagen. Deshalb haben wir für Euch die erste vollständige Alcatraz-Chronik zusammengestellt. Viel Spaß beim Nachschlagen.
Und immer dran denken: “Wenn man die Regeln der Gesellschaft mißachtet, kommt man ins Gefängnis. Und wer die Regeln im Gefängnis nicht beachtet, der kommt zu uns.”
(Direktor Warden, “Flucht von Alcatraz”)
Mai 2014: Hunderte von Touristen schieben sich durch die Zellentrakte des ehemaligen Hochsicherheitsgefängnisses Alcatraz. Aufgeregtes Raunen als Grundton auf allen Gängen, ab und an quietscht ein Kind oder rennt vergnügt den Gang entlang. Entspannte Urlaubsgefühle inmitten von tausenden Tonnen Beton und Stahl und am Ausgang im Souvenirshop noch eine schwarz-weiß gestreifte Alcatraz-Boxershort kaufen oder was anderes total Witziges. Dass allein der Gedanke an Alcatraz Island trotz seiner malerischen Lage in der San Francisco Bay mit Blick auf die Skyline von Amerikas schönster Metropole zur Linken und Amerikas schönster Brücke, der Golden Gate Bridge, zur Rechten, einst bei jedem noch so abgebrühten Schwerverbrecher für Angstzustände und Schweißausbrüche sorgte, kann sich heute keiner mehr vorstellen. Auch wenn der kostenlose Audioguide noch so oft darauf hinweist. Glückliche Familien flanieren an einem sonnigen kalifornischen Frühlingsmittag an Gitterkäfigen vorbei, als seien sie im San Diego Zoo, nur ohne Tiere. Aber das war nicht immer so…
August 1775: Genauso wenig, wie man sich heute ausmalen kann, was Alcatraz Island einst für eine ausweglose, feuchte Hölle für Schwerkriminelle war, ohne Aussicht auf Hafterleichterung, ohne Abwechslung, ohne besondere Vergünstigungen und der täglich quälenden Aussicht auf das pulsierende Leben San Franciscos, dessen Straßenlärm bei günstigem Wind sogar im Gefängnis zu hören war, genauso wenig konnte sich der Entdecker der Insel Alcatraz, Juan de Ayala, im August 1775 vorstellen, dass aus der belanglosen Felseninsel einmal einer der berühmtesten Orte der Welt werden würde. Ohne anzulegen fuhr er an der Insel vorbei und gab einer etwas weiter östlich gelegenen Insel, der heutigen Yerba Buena Island, den Namen Isla de Alcatraces.
1826: Der Marinekapitän und Geograph Frederick William Beechey sortiert die Namen der Inseln in der San Francisco Bay neu. Die heutige Insel Alcatraz tauft er Alcatrazes Island, aus der Isla de Alcatraces wird die oben genannte Yerba Buena Insel.
1846: Während des mexikanisch-amerikanischen Krieges kauft der militärische Gouvernor Kaliforniens, John C. Frémont, die spätere Gefängnisinsel Francis Temple im Namen der USA ab.
1851: Die USA haben 1850 Mexiko besiegt und Kalifornien ist deshalb seit einem Jahr US-Bundesstaat. Die US-Küstenwache tauft Alcatrazes Island ab sofort Alcatraz Island. Der Name hat bis heute Bestand.
1854: Der durch den Goldrausch von 1848 massiv angewachsene Schiffsverkehr in der Bucht von San Francisco dringend benötigte Leuchtturm wird nach zwei Jahren feierlich eröffnet. Ab sofort sinken nicht mehr ganz so viele Schiffe aufgrund von Untiefen und der starken Nebelbildung am Golden Gate. Der Leuchtturm auf Alcatraz Island ist der erste überhaupt an der Pazifikküste beider amerikanischer Kontinente.
1859: Nach sechs Jahren Bauzeit wird Fort Alcatraz eröffnet. Von nun an wird von Alcatraz Island aus der Schiffsverkehr militärisch überwacht.
1861: Die isolierte Lage und die ohnehin stationierten Soldaten lassen eine Nutzung als Gefängnis nur konsequent erscheinen. Unter anderem werden hier während des Sezessionskrieges (1861-1865) Marinesoldaten der konföderierten Staaten interniert.
1903: Das Militärgefängnis ist hoffnungslos verfallen und von der aggressiven Seeluft zerfressen, so dass es geschlossen werden muss.
April 1906: Das große Erdbeben von San Francisco zerstört einen Großteil der Stadt und circa 3.000 Einwohner kommen ums Leben. Nichtsdestotrotz beginnen im selben Jahr die Arbeiten für einen Gefängnisneubau aus Stahlbeton auf Alcatraz Island.
1909: Der alte Leuchtturm wird trotz seiner historischen Bedeutung abgerissen und durch einen neuen ersetzt, welcher bis heute existiert.
1911: Das neue Gefängnis wird nach fünf Jahren Bauzeit eröffnet.
Januar 1920: Der 18. Zusatzartikel zur Verfassung der USA tritt in Kraft. Ab sofort ist die Produktion, der Ausschank, der Handel und der Konsum von Alkohol verboten. Die Unterwelt wittert einen neuen Tätigkeitsbereich.
Oktober 1929: Der Black Thursday versetzt Börsenanleger in Panik und lässt in Folge dessen die Aktienkurse einbrechen. Das Zeitalter der großen Depression beginnt und stürzt die Weltwirtschaft in eine tiefe Krise, aus der sich die USA erst 1941 mit Eintritt in den Zweiten Weltkrieg befreien können. Weltwirtschaftskrise in Verbindung mit Alkoholprohibition lassen die Verbrechensrate in den USA explodieren und die Gefängnisse überquillen. Ein neuer Typus eines Hochsicherheitsgefängnisses wird dringend benötigt.
Oktober 1931: Alphonse Gabriel “Al” Capone wird zu elf Jahren Gefängnis wegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche verurteilt.
1933: Das Fort wird aufgegeben, die Soldaten ziehen ab. Alcatraz ist ab sofort eine reine Gefängnisinsel.
Dezember 1933: Präsident Franklin D. Roosevelt hebt die Alkoholprohibtion auf. Einen Effekt auf die grassierende Kriminalität hat die Legalisierung jedoch auch nicht mehr.
1934: Nach umfangreichen Umbaumaßnahmen wird Alcatraz zum Hochsicherheitsgefängnis hochgestuft. Die neu installierten Zellenblöcke in dem Stahlbetongebäude von 1911 machen Alcatraz zum ausbruchsichersten Gefängnis der Welt. Gitterstäbe aus hochfestem Stahl, elektrisch fernentriegelte Zellentüren ohne schlüsselbetätigte Schlösser und Tränengasdüsen an der Decke des Essensraumes halten die übelsten Schwerverbrecher der USA in Schach. Schwer bewaffnete Wächter patroullieren auf separierten, vergitterten Podesten innerhalb des Gefängnisses, so dass kein Gefangener sich eine Waffe aneignen kann. Wächter die in direktem Kontakt zu den Insassen stehen, sind nur mit Gummiknüppeln ausgerüstet. Zwölf mal am Tag zu immer unterschiedlichen Zeiten werden die Gefangenen durchgezählt, in der Kantine gibt es keine Gabeln, nur Löffel. Auf drei Häftlinge kommt ein Wärter. Dies ist mehr als die doppelte Quote als sonst landesüblich. Das Wasser der Bucht ist eiskalt und die Strömung zieht jeden Schwimmer raus aufs Meer. Unter den Gefangenen verbreitet die Leitung von Alcatraz wiederholt das Gerücht von blutrünstigen Haien im Wasser. In Wirklichkeit leben vor San Francisco nur ungefährliche Katzenhaie…
August 1934: Die größte aller Unterweltgrößen, Alphonse Gabriel “Al” Capone, wird vom Bundesgefängnis Atlanta nach Alcatraz überstellt, da er in Atlanta wiederholt versuchte, Wärter mit Bargeld zu bestechen, um sich Vorteile zu verschaffen. Neben Capone wird auch der zu lebenslanger Haft verurteilte Prohibitions-Kriminelle und Entführer Machine Gun Kelly nach Alcatraz verschifft, weil er mehrmals einen Ausbruch aus der Haftanstalt Leavenworth lauthals ankündigt.
Januar 1939: Syphiliskrank wird Al Capone ins Terminal Island Prison in Los Angeles verlegt, ehe er im November 1939 vorzeitig aus der Haft entlassen wird.
Dezember 1942: Der hochintelligente Psychopath und zweifache Mörder Robert “Birdman” Stroud wird aus dem Bundesgefängnis Leavenworth in Kansas nach Alcatraz gebracht. Stroud hat bis dahin bereits seit 43 Jahren, davon 30 in Leavenworth, gesessen. In Leavenworth hatte sich Stroud eine Vielzahl von Privilegien erarbeitet, insbesondere die Erlaubnis zur Vogelzucht in seiner Zelle. “Birdman” Stroud stieg durch seine in Haft autodidaktisch erlangten Kenntnisse über Vögel, ihre Züchtung und Haltung zum anerkannten Ornithologen auf, der sogar zwei Fachbücher über Vogelkrankheiten veröffentlichte. Die Verlegung nach Alcatraz soll in erster Linie dieses Treiben unterbinden, da ihm auf der Insel keine Vogelhaltung in der Zelle sowie ausschweifende Kontakte zur Außenwelt gewährt wird.
April 1943: “Pretty Boy” Floyd Hamilton, einst Fluchtwagenfahrer von Bonnie und Clyde Barrow, misslingt die Flucht von Alcatraz. Hamilton wird erst 1958 entlassen und stirbt 1984 im Alter von 76 Jahren.
Mai 1946: Der “Battle of Alcatraz” bricht aus. Die Insassen Bernard Coy und Marvin Hubbard überwältigen den Gefängnisaufseher William Miller, bringen nach dem Aufbiegen der Gitterstäbe mit einem selbstgebauten Spreizer die normalerweise streng abgeschirmten Gewehre der Wärter in ihren Besitz und lassen mehrere Mithäftlinge frei. U.S. Marines stürmen die Insel und eröffnen rigoros das Feuer ohne Rücksicht auf Verluste. Coy und Hubbard sterben genauso wie der revoltierende Häftling Joe Cretzer im Kugelhagel. Auf der anderen Seite verlieren William Miller und Harold Stites ihr Leben. Am Morgen des 4. Mai erlangen die Marines die Kontrolle über Alcatraz. Spuren des massiven Sprengstoffeinsatzes seitens des Militärs sind bis heute im Zellentrakt zu sehen.
Januar 1947: Al Capone stirbt in seinem Haus in Palm Island an Syphilis.
März 1950: Der Top-Spion des Dritten Reiches, Erich Gimpel, wird nach Alcatraz gebracht. Die letzten fünf Jahre seiner insgesamt zehnjährigen Haftstrafe verbringt Gimpel auf Alcatraz und spielt gerne Schach mit Machine Gun Kelly. Am 12. August 1955 wird der eigentlich zum Tode verurteilte Agent nach Deutschland abgeschoben.
1951: Machine Gun Kelly wird wieder zurück nach Leavensworth gebracht, wo er drei Jahre später in Haft an einem Herzinfarkt sterben wird.
1959: Robert Stroud wird aufgrund gesundheitlicher Probleme ins Gefängnis von Springfield/Missouri gebracht.
Juni 1962: Dem mit einem IQ von 133 überdurchschnittlich begabten Frank Morris und den Gebrüder Anglin gelingt die Flucht von Alcatraz. Zumindest werden ihre Leichen nie gefunden. Die drei Häftlinge graben sich mit geklautem Essbesteck durch den porösen, vom Meersalz angegriffenen Beton ihrer Zellenwände und gelangen dadurch in einen Versorgungsgang. Von dort aus hauen sie übers Dach der Haftanstalt ab. Damit die Abwesenheit während des ständigen Durchzählens nicht auffällt, fertigen die drei Flüchtlinge Köpfe aus Pappmaché an, die sie mit echten Haaren aus dem Frisiersalon des Gefängnisses versehen.
Juni 1962: Das FBI stellt angeschwemmte Reste eines aus Gefängnis-Regenjacken selbst genähten Schlauchbootes sicher. Erste Gerüchte, dass Morris und die Anglins es geschafft haben, kommen auf.
Juli 1962: “Birdman of Alcatraz” (deutscher Titel: “Der Gefangene von Alcatraz”) kommt in die Kinos. Burt Lancaster spielt Robert Stroud und lässt den lebensgefährlichen Psychopathen in zu gutem Licht erscheinen, stellt in schon fast als Helden dar. Stroud wird den Film niemals sehen, da ihm die Gefängnisleitung dies nicht vergönnt.
Dezember 1962: Knapp daneben ist auch vorbei. John Paul Scott ist der einzige Alcatraz-Insasse, der es bewiesenermaßen schaffte, bis ans Festland zu schwimmen. Gemeinsam mit Darl Parker bricht er aus, indem sie die nicht gehärteten Fenstergitter der Gefängnisküche durchsägen. Parker wird im Wasser geschnappt, Scott hingegen schwimmt die drei Meilen durch acht Grad kaltes Wasser und erreicht das Festland bei Fort Point. Ausgekühlt und erschöpft klappt er am Strand bewusstlos zusammen, wird morgens durch herbeigerufene Polizeibeamte unsanft geweckt, nachdem Jugendlichen ihn entdeckten und wird zurück auf die Insel gebracht… John Paul Scott stirbt 1986 in Haft, allerdings in der Federal Correctional Institution, Tallahassee/Florida.
März 1963: Auf Anordnung des Justizministers Robert F. Kennedys wird das Bundesgefängnis Alcatraz geschlossen. Das Gebäude gilt als baufällig, die Haftbedingungen als nicht mehr zeitgemäß und der Betrieb eines Gefängnisses auf einer Insel ist dem Staat auf Dauer zu teuer.
November 1963: Robert “Birdman” Stroud stirbt im Alter von 73 Jahren inhaftiert in Springfield. Er war 54 Jahre ununterbrochen im Knast, davon mehr als 16 auf Alcatraz. Sechs Jahre davon verbringt er im gefürchteten Isolationsblock D, die restlichen zehn Jahre auf der Krankenstation des Gefängnisses. Insgesamt befindet sich Stroud 43 Jahre seiner Haftzeit in Isolation zum Schutz anderer Häftlinge – kein Wunder, dass er irgendwann anfing mit Vögeln zu sprechen.
November 1964: 40 Sioux-Indianer besetzen das leerstehende Gefängnis. Die Besetzer fordern die Einhaltung und Erfüllung des Vertrages von Fort Laramie. Das Schriftstück von 1868 besagt, dass nicht mehr benötigtes Bundesgebiet der USA automatisch an die Ureinwohner des Landes zurückfällt. Ende der Sechziger wird es auf Alcatraz Island ganz schön eng. Die politisierte Jugend der Hippie-Ära solidarisiert sich mit den Sioux und die mehrjährige Besetzung der Insel wird zum Happening mit musikalischer Untermalung. Der Staat sieht die Sache weniger romantisch, interessiert sich wie gewohnt nicht für Zugeständnisse, die er irgendwann mal machte und am 11. Juni 1971, immerhin fast sieben Jahre nach Besetzungsbeginn, stürmt das FBI die Insel und löst die Veranstaltung ein für alle mal auf.
Dezember 1979: Die Indianer-Freunde vom FBI stellen die Ermittlungen zum Ausbruch von Frank Morris, John und Clarence Anglin ein. Seitens der Bundespolizei geht man davon aus, dass die drei in den frühen Morgenstunden des 12. Juni 1962 in der eiskalten Bucht von San Francisco ertranken. Dennoch sind alle Mann bis heute zur Fahndung draußen. Die noch lebenden Schwestern der Anglins, Marie und Mearl, sind davon überzeugt, dass es ihre Brüder damals in die Freiheit geschafft haben. So erreichte ihnen zufolge eine Weihnachtskarte im Dezember 1962 die Mutter, unterschrieben von John. Jedes Jahr zum Muttertag bekam die alte Frau Anglin Blumen unbekannten Absenders zugeschickt und der Legende zufolge sollen zwei auffallend große Frauen auf der Beerdigung von Mama Anglin gewesen sein…
Oktober 1972: Alcatraz wird Teil der Golden Gate National Recreation Area und kann ab sofort von Touristen besucht werden. Jedes Jahr kommen eine Million Menschen auf die Insel und werden durch das berühmteste Gefängnis der Welt geschleust. Zwischen 1934 und 1963 besuchten dagegen lediglich 1576 Häftlinge Alcatraz Island.
Juni 1996: Wie fast immer in der Geschichte kommt das stilloseste zum Schluss. The Rock – Fels der Entscheidung läuft im Kino an. Silberrücken Sean Connery richtet von Alcatraz aus Massenvernichtungswaffen auf San Francisco und Nicholas Cage als Guter versucht die Katastrophe mit seinem ausdruckslosen Dackelblick zu verhindern. Kein Popcorn-, sondern Dosenbier-Kino. Faxe 1-Liter-Dose. Anders hält man den 131-minütigen, arg konstruierten Plot nicht aus, ohne irgendwann damit anzufangen, sich selbst die Haare raus zu reißen oder Sylvesterraketen auf Vatis Modelleisenbahn abzufeuern.
Alcatraz ist neben dem Pomona Swap-Meet, dem Wasteland Weekend, dem AMARG Aircraft Boneyard, dem Barringer-Krater, dem Yosemite Nationalpark und der Geisterstadt Bodie ein unverzichtbarer Ort, den man ansteuern muss, wenn man den Wilden Westen bereist. Aber die Tickets bitte bereits von Zuhause aus unter http://www.alcatrazcruises.com reservieren, denn dieselbe Idee haben jedes Jahr eine Million Menschen.
Text: Norman Gocke