Was New Orleans für Jazzfans ist, das ist Memphis für Rockabilly-Liebhaber. Musikinteressierte Touristen, die heute in die Südstaatenmetropole kommen, sind allerdings häufig enttäuscht. Anders als der “Geburtsort” des Jazz, der sich auch von einem Hurricane nicht seiner unnachahmlichen Lässigkeit berauben lässt, ist die Beale Street heute kaum mehr als eine Touristenmeile und Graceland … nun ja, von Rock´n´Roll ist an dieser Elvis-Gedenkstätte nicht viel zu spüren. Anders im Sun-Studio. Wer sich für einen Besuch des kleinen Tonstudios mit seiner großen Geschichte entscheidet, kann vielleicht noch einen Hauch von dem erahnen, was Memphis in den 50ern weltbekannt machte.
Das Sun Studio in Memphis und Elvis Presley
Das Aufnahmestudio, das Sam Phillips und seine gute Freundin Marion Keisker 1950 in Memphis eröffneten, hatte wenig Ähnlichkeit mit den gut ausgerüsteten Hightech-Studios unserer Tage. Auch tummelten sich in dem winzigen Aufnahmeraum keineswegs von Anfang an nur Rhythm´n´Blues- und Countrysänger.
Zwar hatte der passionierte Bluesfan Phillips früh spätere Stars wie B.B. King oder Howlin’ Wolf zu Gast. Allerdings ging es ihm so wie vielen Studiobesitzern heute, die in erster Linie von volkstümlicher Musik, vertonten Geburtstagsgeschenken und musikalischen Ergüssen zum Junggesellenabschied leben. Um Geld zu verdienen, durfte auch er keine Skrupel haben. Deshalb nahm Phillips zunächst alles mögliche auf, sogar Beerdigungen. Die Devise, mit der der rührige Studiobesitzer und Produzent um Kunden warb, lautete schlicht: “We record anything, anywhere, anytime” und Phillips hielt sich an diesen Leitsatz.
Damit lockte er auch seinen berühmtesten Kunden an. Der junge Lastwagenfahrer Elvis Presley hatte schon mehrmals versucht, mit seinen Gesangskünsten einen Fuß in die Tür des Showbusiness zu bekommen, unter anderem mit Auftritten in der Radiosendung “Saturday Night Jamboree”. Diese Show in Memphis gilt manchen Experten als erster Ort, an dem Rockabilly gespielt wurde. Zunächst war Elvis allerdings wenig Erfolg beschieden.
Auch die Songs, die er mit seinen späteren Sidemen Gitarrist Scotty Moore und Bill Black im Rahmen einer Session im Juli 1954 für Sam Phillips Label Sun Records aufnahm, beeindruckten den Studiobesitzer wenig. Der war schon länger auf der Suche nach einem Weißen, der wie ein Schwarzer klang und Gospel, Blues und Country zu einer eigenen, feurigen Mischung kombinierte. Die Balladen und Countrysongs, die ihm Elvis Presley anbot, hatten mit dieser Vision wenig zu tun.
Als Elvis jedoch in einer Pause der Recording-Session in eine schwungvolle Mischung von “That´s all right, Mama” ausbrach, war es soweit. Der erste im Sun Studio produzierte Rockabilly Song war geboren, mit allen Zutaten, die dazu gehören: geslapptem Kontrabass, bluesigen Gitarrenlicks und einem Sänger, der nicht nach Liebe im Mondschein, sondern nach Sex auf dem Rücksitz eines Cadillacs klang. “That´s all right, Mama” wurde zum Beginn der Karriere des “King of Rock´n´Roll” und einem Klassiker der Rockabilly-Geschichte.
Carl Perkins, Johnny Cash und Jerry Lee Lewis – die Hochzeit des Rockabilly
Elvis und seine beiden Mitstreiter, die im Folgenden mit ihrer heißen Liveshow für Aufsehen erregten, wurden zu Pionieren des Rockabilly-Sounds. Landauf, landab versuchten junge Musiker diesen Musikstil zu imitieren, der seinen Zuhörern in die Beine und die Hüften fuhr. Das Zentrum dieser Versuche blieb jedoch Memphis, genauer gesagt das Sun Studio, das nun auf einmal eine unerwartete Popularität genoss. Mithilfe einer Reihe von Musikern, die ab etwa 1955 eine Art Studioband darstellten, und spezieller Aufnahmeverfahren entstand ein Sound, der charakteristisch für Rockabilly wurde.
Die größten Hits bei Sun Records lieferte jedoch nicht Elvis, sondern Carl Perkins, Johnny Cash und Jerry Lee Lewis. Während der Millionenseller “Great Balls of Fire” mehr Rock´n´Roll als Rockabilly war, gilt “Blue Suede Shoes” von Carl Perkins als einer der Rockabilly-Klassiker, der heute auf kaum einer Setliste junger Bands des Genres fehlt.
Carl Perkins – Blue Suede Shoes – Perry Como Show -1956
Auch Johnny Cash war am Anfang seiner Karriere stark vom Rockabilly beeinflusst. Sein Bestseller bei Sun Records “I walk the Line/Get Rhythm” ist ein gutes Zeugnis dafür. Ende 1956 kamen Perkins, Presley, Cash und Lewis sogar zu einer gemeinsamen Session im Sun Studio zusammen – zufällig. Die Zusammenkunft wurde von der lokalen Presse als “Million Dollar Quartet” bezeichnet.
Memphis war nicht das einzige Zentrum des Rockabilly in den 60er-Jahren, aber wahrscheinlich das wichtigste. Eine Reihe von Musikern pilgerten in die Heimatstadt von Sun Records, um dort ihre eigenen musikalischen Visionen aufzunehmen. Die wenigsten allerdings fanden den erhofften Ruhm und die Zeit, die ihnen dafür zur Verfügung stand, war knapp bemessen.
Das Ende einer kurzen Blüte
So schnell wie es begonnen hatte, war es auch schon vorbei mit dem Rockabilly und der Bedeutung von Memphis für Rock´n´Roll. Nicht nur verließen die großen Stars einer nach dem anderen das Sun Label, Anfang der 60er-Jahre war mit Rockabilly plötzlich kein Blumentopf mehr zu gewinnen bei jungen Hörern. Sun Records veröffentlichte seine letzte Single 1968. Zu diesem Zeitpunkt hatte mit dem Stax-Label bereits die Blütezeit des Memphis Soul schon begonnen. Statt Kontrabass und Schluckaufgesang waren nun Bläser und funky Rhyhmen angesagt.
Dass sich der Rockabilly zu einer zeitlosen Musik- und Modeform entwickelten sollte, deutete sich mit den Revivals in den 70er-Jahren an. Auch im Sun Studio wird mittlerweile wieder aufgenommen. Interpreten wie U2 oder John Mellencamp produzierten bereits an dem historischen Ort. Wer nach Memphis kommt, sollte auf einen Besuch jedenfalls nicht verzichten. Graceland dagegen kann er sich getrost sparen.
Text: Johannes Jooß
Auf meinem Blog habe ich einen dreiteiligen Bericht zu meiner Nashville/Memphis-Reise 2014 veröffentlicht. Darunter sind auch etliche aktuelle SUN-Records-Fotos. Schaut einfach mal ‘rein …