Horatio schrieb:
Der Regenbogen
Ich war gerade in unserm Brauschuppen damit beschäftigt, frisches Obergäriges zu verkosten, als plötzlich krachend die Schuppentür aufgestoßen wurde und Nic im Eingang stand. Sie war blau angelaufen und röchelte. Nach einem kurzen Moment des Schreckens erkannte ich, dass sie nicht sauer war, weil ich sie nicht zum Bierverkosten mitgenommen hatte.
Darum quetschte ich von hinten ihren Brustkorb zusammen und rammte ihr die Faust in den Solar Plexus.
Intermezzo:
Am Ende des Regenbogens, so heißt es, findet man eine Truhe voll Gold.
Vielleicht handelt es sich dabei nicht gerade um eine sogenannte Bauernweisheit, doch jedes mal, wenn dieses wunderschöne Naturschauspiel am Himmel zu sehen ist, bricht hier auf dem Land die Hölle los. Es ist halt so, dass ein jeder Bauer denkt, dass er eine Kiste Gold recht gut gebrauchen könnte, besonders bei den steigenden Preisen für Edelmetall.
Prinzipiell ist jeder Bauer erst mal arm. Sicher, da sind die siebenstelligen finanziellen Rücklagen, umfangreicher Landbesitz, Immobilien und Betriebsvermögen, aber abgesehen davon ist man arm. Wenn man nicht arm ist, erschwert das den Erhalt von Steuererleichterungen, Subventionen und Entschädigungen.
Und was könnte ich mit einer Truhe Gold nicht alles machen, denkt sich der Bauer. Zum Beispiel könnte ich sie irgendwo vergraben. Oder ich könnte das Gold rausnehmen, meine Schwiegermutter reinstecken und die Truhe dann vergraben. Oder falls mich einer dabei beobachtet, könnte ich sie wieder ausgraben und woanders vergraben. Und falls mich wieder einer dabei beobachtet, könnte ich …
So ist also zu bezweifeln ob Gold wirklich glücklich macht, doch sobald ein Regenbogen erscheint, lässt hier jeder alles stehen und liegen um der Erste am Ende des Regenbogens zu sein, denn dem gehört die Schatzkiste. Das ist seit ewigen Zeiten so. Bisher hat es nie jemand geschafft. Bevor man das Ende des Regenbogens erreicht, ist dieser jedes mal auch schon wieder verschwunden. Bauer Dröge behauptet, sein Großvater hätte behauptet, er hätte es einmal geschafft, am Ende anzukommen bevor der Regenbogen wieder verblasste. Aber es muss wohl das falsche Ende gewesen sein, denn er kam ohne Gold nach hause. Seitdem wurden eine Menge Versuche unternommen aus der Familie Dröge herauszubekommen, ob der Großvater am linken oder am rechten Ende des Regenbogens gewesen war, denn natürlich hätte man durch das Wissen darum einen klaren Vorteil.
Es regnete viel dieses Jahr, doch einen Regenbogen sah man nicht. Bis vor einigen Tagen im November.
Zurück zum Brauschuppen:
Als der Klumpen Kautabak aus Nics Atemröhre schoss, duckte ich mich und zog Nic ebenfalls runter, damit uns nicht etwa der Querschläger erwischte.
Nic zog hustend und pfeifend die Atemluft ein. Dann brach aus ihr das eine Wort hervor und ich wusste, was der Grund dafür war, dass sie sich am Kautabak verschluckt hatte. Das Wort war: “Regenbogen!”
Da sie nun nicht mehr ersticken würde, ließ ich sie liegen und rannte zum großen Schuppen mit unserem Fuhrpark. Ich war diesmal so was von vorbereitet. Ich holte die beiden Verkehrsmittel heraus, die für Nic und mich am besten bei dieser Art von Wettrennen geeignet waren. Nic hatte sich inzwischen auf den Hof geschleppt und begann sich wieder zu erholen.
“Was ist? Willst Du nicht irgendwas startklar machen?” jappste sie.
“Hab ich ja. Wir nehmen diese hier.”
“Einen frisierten Rasenmäher und einen Pogo-Stock mit Hilfsmotor?”
“Richtig.”
“Ich nehme an, die sind mit Hollergeist vollgetankt.”
“Richtig.”
“Horatio, ich liebe dich und ich vertrau dir, aber…”
“Aber?”
“Aber ich frage mich manchmal, ob dein Familienname Lemming von ungefähr kommt.”
“Wir haben keine Zeit zu verlieren. Auf geht’s!”
Mein Plan war wohl durchdacht. Dies würde ein Querfeldeinrennen. Mit den meisten landläufigen Fahrzeugen ist man an Straßen oder wenigstens Wege gebunden. Mit unseren Geräten konnte man sich sogar im Wald schnellstens fortbewegen. Soweit die technischen Voraussetzungen. Dann hatte ich mir noch etwas überlegt. Seit einigen Jahren fuhren alle immer Bauer Dröge hinterher, weil sie dachten, er würde auf jeden Fall zum richtigen Ende des Regenbogens fahren, denn sein Großvater war ja am falschen Ende gewesen. Meine Theorie war aber, dass sein Großvater eigentlich am richtigen Ende gewesen war. Ich vermutete, dass er das Gold tatsächlich doch gefunden hatte. Wenn er es jedoch mit nach hause gebracht hätte, wären sicher einige seiner Familienmitglieder der Ansicht gewesen, dass Teilen eine Tugend sei. Um zu vermeiden, dass seine Verwandtschaft sich über sein Gold hermachte, hatte er gelogen und behauptet, er hätte kein Gold gefunden während er es in Wahrheit woanders vergraben hatte. Der alte Fuchs! Nicht so schlau, roch aber so.
Wir schmissen unsere Kisten an und nahmen Kurs direkt durch das Unterholz in nord-östlicher Richtung. Zwischendurch machten wir einen Schlenker zum Kanal. Zur anderen Seite des Kanals hatten wir einen freien Blick, weil sich dort weitläufige Ackerbauflächen hinziehen. So konnten wir feststellen, das die Ochsenfuhrwerke, Reiter, Traktoren, Geländewagen und Fahrräder sich ungefähr in süd-östlicher Richtung bewegten. Ich hatte also recht mit meiner Vermutung.
Nic hatte etwas Probleme mit dem Pogo-Stock. Weil der Hilfsmotor mit Hollergeist getankt war, kam es eine Weile zu enormen Sprunghöhen bis Nic das Gerät richtig in den Griff bekam. Der eine oder andere Habicht mag sich gewundert haben, wenn vor ihm plötzlich Nic aus dem Dickicht der Baumwipfel schoss und dann wieder darin verschwand nur um Sekunden später wieder einige Meter weiter erneut aufzutauchen.
Fortsetzung folgt
Ich hab`s gefunden.
Gefällt mir. Freue mich auf Nr. 2.
Hervorragend! Weiter so!