Horatio XIV/1

Horatio schrieb:

Weinnachtsmorgen, Weinnachtssorgen

 

Am ersten Weihnachtstag trifft sich die ganze Familie in der Regel um die Mittagszeit auf dem Hof von Hannibal Pannenbecker.

Nic und ich waren am Weihnachtsmorgen noch ziemlich angeschlagen vom Friedelfest am heiligen Abend, denn wir hatten nicht viel geschlafen. Das war wieder herrlich gewesen, wie der Darsteller, der den Friedel spielte, seine Flic Flacs durch den Mittelgang geschlagen und sich dann vor dem Altar aufgebaut hatte. Danach wurde die Plünderung der Luettentroper Kapelle nachgespielt, die historisch überhaupt nicht stattgefunden hat. Wenigstens nicht in Zusammenhang mit Friedel Wohlgefallen, denn als der kam, war diese Gegend unbesiedelt. Aber beim Friedelfest werden in Luettentrop quasi jedes Jahr neue Traditionen geboren. Dieses Jahr hatten wir das Spiel “Zünd den Glühweinstand an” erfunden, was dem Wort “Glühwein” eine weitere Bedeutung verlieh. Genau genommen hatte Nic in ihrer unermesslichen Weisheit das Spiel erfunden. Nic war durch intensiven Alkoholgenuss noch viel weiser geworden als sonst: “Weinnachten, dasseißt Weinnachten, weilla so viel Wein getrung wird! Dassis Sünde! Aufn Scheiderhaufn mitn Pfaffen, der alde Sünder!” Die genauere Logik mag sich dem Betrachter entziehen, aber in dem Moment schien uns das allen vollkommen richtig und eine gute Idee zu sein. Sicher hätte der Glühweinstand gerettet werden können, aber alle Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr Groetentrop hatten gerade Bescherung mit ihren Lieben in eben Groetentrop.

Ach ja, hätte ich fast vergessen. Der Pastor teilte das Schicksal des Glühweinstands nicht, weil er um die seltsamen Einfälle seiner Gemeinde zum Friedelfest wusste und sich in kluger Vorausahnung dem heidnischen Treiben bereits etwas früher entzogen hatte.

Jetzt saßen Nic und ich zusammen in der Küche, versuchten Geschenke auszusuchen, zu verpacken und Karten dazu zu schreiben. “Ich glaube, Weihnachten schreibt man mit ‘h’!” sagte ich zu ihr.

“Unsinn!” entgegnete Nic in ihrer unermesslichen Weisheit “Das heißt Weinnachten, weil dann immer alle weinen müssen. Deswegen heißt es Wein-Nachten. Das weiß doch jedes Kind!”

“Wieso soll man da weinen? Das ist doch eine wunderschöne Zeit.”

“Was weiß denn ich? Vor Rührung halt. Oder wenn du daran denkst, dass du heute in das Gesicht von Hannibals Frau Adelheid sehen musst. Möchtest du da nicht weinen?”

“Huh, das stimmt.” Nic in ihrer unermesslichen Weisheit hat halt immer recht. Aber eine Sache hätte ich gerne noch geklärt gehabt: “Gestern hast Du aber gesagt, das es Weinnachten heißt, weil da Wein getrunken wird.”

“Und? Wie wird Wein geschrieben? Ohne ‘h’, siehst du?”

Dagegen gab es nichts einzuwenden. Ich machte mich daran, die Geschenke aus der Havarie des Postwagens zu verteilen, was gar nicht so leicht war. Irgendjemand in Luettentrop hatte sich diskret Plastikspielzeug von einem Schweineversand zusenden lassen. Deswegen würde der Pfarrer dieses Jahr auch ein Überraschungspaket erhalten. Die Metzgerei hatte wohl einige eingeschweißte ganze Serrano-Schinken bestellt. Da wir nicht so viele brauchten, verpackte ich einen davon für Hector. Für Hectors Frau wählte ich ein schnittiges Dampfbügeleisen aus. Hannibal hätte ich am liebsten “Dein Freund der Elefant; Haltung und Pflege” geschenkt, aber einmal kann er nicht gut lesen und außerdem war das Buch in keinem der Postpakete zu finden. Bilder gucken, das kann Hannibal schon. Darum hatte ich für ihn zwei schwere Bildbände ausgesucht, einen über die Sehenswürdigkeiten der Stadt Rom sowie einen mit dem Titel “Die Alpen im Wechsel der Jahreszeiten”. Für Adelheid packte ich ein Riesenpaket mit Kosmetik- und Wellnessprodukten – nicht, dass ich glaubte, dass es etwas helfen würde.

Für die Kinderschar verpackte ich alle Süßigkeiten, die ich finden konnte. Außerdem legte ich jedem der Gören von Hannibal eine Packung Retalin dazu. Pascal, der Sohn von Hannibal hatte vor kurzem zwei Aufsätze geschrieben “Rohrbomben selbst gemacht; Eine Anleitung zum Überleben in der Sekundarstufe I” und “Die Rasierklinge im Pausenbrot; Rache ist ein geiles Zeug”, darum hielt ich das irgendwie für angebracht. Geldgeschenke fand ich doof. Die Kohle, die wir in den Weihnachtsgrußkarten fanden, konnten wir besseren Zwecken zuführen.

Irgendwann waren wir endlich fertig, banden den ganzen Mist hinten auf das Raupenfahrzeug und wollten uns zu Hannibals Hof aufmachen. In den letzten Tagen hatte es irre viel geschneit, es war also gut, dass wir das Ding hatten, sonst wären wir gar nicht weggekommen und auf das Friedelfest hätten wir gestern auch nicht gehen können. Also Schlüssel in das Zündschloss, Schlüssel drehen und – nichts. Noch ein Versuch – nichts.

Auf die Schnelle war da nichts zu machen, denn wir wollten rechtzeitig bei Hannibal sein und hatten nicht groß Zeit und Lust, uns bei der Kälte eingehender mit der Sache zu beschäftigen. Nic schaute zur Gänsehütte. Die Wachgänse schauten ängstlich zurück und ließen ein “Gulp!” hören. Eine halbe Stunde später flogen wir regelrecht mit unserem Holzschlitten über den Stichweg. Damit die Gänse richtig Tempo machten, hielt Nic an einer Angelrute ein Bild von H.B. über ihre Köpfe hinweg vor ihre Gänseschnäbel. Das machte sie so richtig wild. Die echten Wildgänse auf den verschneiten Feldern und an den gefrorenen Wasserläufen starrten uns entsprechend verdutzt an, als wir vorbeirasten.

Was wir nicht wussten. Hinter der zweiten Biegung erwartete uns Unheil. Die Kurve war nicht einzusehen. Darum sahen wir auch die gewaltige Schneewehe erst, als es nicht mehr zu vermeiden war, dass wir hineinrasen würden.

Wir gruben uns hinaus, klopften uns den Schnee notdürftig ab und sahen uns um. Der hintere Teil des Schlittens mit den Geschenken ragte aus dem Schneeberg hervor. Das Bündel und die Schnüre hatten gehalten. Feine Sache, so brauchten wir nicht alles wieder einzusammeln. “Glück gehabt!” rief Nic, noch in Richtung des Schlittens schauend. “Jetzt einmal durchatmen, die Gänse ausgraben und dann stecken wir die Nase wieder in den Wind.”

“Ich würde die Nase ja gerne in den Wind stecken.” sagte ich vorsichtig. Gaaanz vorsichtig.

“Aber? Was ist dein Problem, Horatio?”

“Ich habe einen Gewehrlauf in meiner Nase.”

Fortsetzung folgt