Horatio schrieb:
Weihnachten bei Pannenbeckers
Weihnachten, das ist bei uns so eine der wenigen Gelegenheiten, bei der ausnahmsweise auf die gewöhnliche, traditionelle und streng vorgeschriebene Begrüßungszeremonie verzichtet wird. Stattdessen haben wir uns angewöhnt, uns an Weihnachten vor dem Mittagessen gegenseitig zu verprügeln.
Die Sache ist die: Schon die alten Germanen waren dafür bekannt, sich zur Wintersonnenwende bis zur Besinnungslosigkeit zu besaufen und zwar aus rein zeremoniellen Gründen, da es hieß, dass man dadurch den Göttern näher sei. Das Dumme war, das es dabei regelmäßig im Suff zu Raufereien kam. Dann zog man nicht selten das Schwert. So kamen einige Germanen tatsächlich den Göttern sehr schnell sehr nahe.
Meine Theorie ist: Genetisch war diese Veranlagung vermutlich dominant und der Brauch blieb in unserem kollektiven Bewusstsein erhalten. Deswegen gibt es zu Weihnachten auch heute noch regelmäßig in beinahe jeder Familie Zank, wenn sie zusammenkommt. Früher oder später knallt es und unsere Familie hat sich eben irgendwann gesagt, dass wir es lieber früher machen wollen.
Nachdem wir uns auf die Schnauze gehauen haben, sind die meisten Aggressionen abgebaut und wir können uns alle auf eine entspannte Weihnachtsfeier ohne unvorhergesehene Zwischenfälle freuen, bei der etwaige Differenzen freundlich und in aller Ruhe ausdiskutiert werden.
Dass Adelheid und Hectors Frau Zaunlatten benutzen dürfen, ist gewissermaßen unser Handicap. Nic hat schon mal vorgeschlagen, sich eine Hand auf den Rücken zu binden, aber ich fand, dass wir einen guten Vorteil nicht völlig aufgeben sollten.
Wir bilden meistens drei Teams bestehend aus den jeweiligen Ehepartnern. Nic begann mit einer gelungenen Dreierkombination auf Hannibals Jochbein und Kinn. Während sich Adelheid auf sie stürzen wollte, schlug Hectors Frau ihr die Zaunlatte in die Kniekehle und brachte sie damit zu Fall. Zur gleichen Zeit warf sich Hector auf mich, setzte sich auf meine Brust und begann auf mein Gesicht einzuschlagen. Bis er seitlich einen solchen Tritt von Nic gegen sein Ohr bekam, dass er besinnungslos von mir runterfiel – ein frühes Ausscheiden für den Favoriten. Ich sprang auf und blickte direkt in das Gesicht von Hectors Frau. Meine Kopfnuss brach ihr die Nase. Indessen hatte auch Adelheid sich aufgerappelt und zog mir die Zaunlatte quer durch das Gesicht, so dass ich hintenüber stürzte. Dann wurde mir schwarz vor Augen. Als ich aufwachte, kniete Nic zwischen Hannibal und Adelheid, die am Boden lagen und schlug ihre Köpfe abwechselnd auf den Schotterboden.
Nachdem wir nun alle dicke Gesichter hatten, begaben wir uns in die gute Stube. Ein fröhliches “Höhöhöhö, jajajaja!“ erklang zu unserer Begrüßung. Am Tisch saßen bereits erwartungsvoll die Kinder Hannibals und Hectors. Besonders die Kinder Hannibals waren erwartungsvoll, denn Adelheid kann gar nicht gut kochen und zu Weihnachten kommt Hectors Frau deswegen früher und wenigstens einmal im Jahr kriegen die Kleinen dann was Vernünftiges zu essen. Vor Kopf saß Öppa. Irgendjemand hatte ausgerechnet Pascal neben ihn gesetzt. Pascal zeigte Öppa gerade das Spiel, bei dem man eine Hand gespreizt auf den Tisch legt und mit steigender Geschwindigkeit mit dem Steakmesser in die Lücken zwischen die Finger sticht. Nur dass Öppa regelmäßig die Lücken verfehlte.
So war also fast die gesamte Familie zusammen. Außer Nics Eltern, denn die sind lange tot und ihr dritter Bruder Helfgott ist weit fortgezogen.
Nic hat drei ältere Brüder, der Erstgeborene ist Hannibal, nach ihm kam Hector zur Welt und dann folgte Helfgott. Wie kann man bloß Helfgott Pannenbecker heißen? Nicht so schlimm? Haaalllooo, ist hier irgendjemand, der gerne Helfgott Pannenbecker heißen möchte?
Nun, man kann so heißen, wenn Vater und Mutter sich nicht über die Namensgebung einigen können und obendrein die Kirchensteuer nie entrichten, ihr Kind aber trotzdem taufen lassen wollen. Vadder Pannenbecker wollte, dass das Baby Hagen hieße, aber Mudder Pannenbecker bestand auf Hieronymus.
(Also, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, hören sich im Zusammenhang mit Pannenbecker eine Menge Namen ‘panne’ an.)
Das Kind war ein Frühchen und sollte daher rasch getauft werden, denn es war nicht gewiss, ob es überlebte und wie jeder weiß, müssen die ungetauften Kinderseelen als Irrlicht im Moor arme verirrte Wanderer ins Verderben führen. Vadder meinte zwar, man könne das Irrlicht dann ja einfangen und auf dem Hof damit Strom sparen, aber richtig überzeugt, war er von seiner Idee nicht.
Vadder und Mudder stritten sich immer heftiger und kamen hinsichtlich des Namens bis ans Taufbecken nicht überein und als der damalige Pastor fragte, wie das Kind denn nun heißen solle, schrie Mudder Pannenbecker gerade ihren Mann an “Helf Gott, auf irgendeinen Namen müssen wir uns doch einigen können!” Darauf taufte der Pfarrer den Knaben feierlich lächelnd auf den Namen Helfgott. Nicht, dass es dem Pastor Spaß gemacht hätte, oder dass er eine innere Genugtuung verspürte. Sagen wir mal, er empfand es als Gottes Gerechtigkeit.
Wenn man unter Schülern als ein Mensch auftritt, dem Mitgefühl zu eigen ist, so dass man es bespielsweise als unrichtig empfindet, den Klassenlehrer der Zwergschule zu teeren und zu federn, weil er erstens allen (außer einem selbst) in der Mathearbeit ein “Mangelhaft” gegeben hat und weil er zweitens (noch viel schlimmer) nicht aus der Gegend stammt, dann hat man wenig Freunde unter diesen Schülern.
Wenn man über seine emotionale Intelligenz hinaus auch über eine exzellente Bildung und einen überdurchschnittlichen Verstand verfügt, dabei Helfgott Pannenbecker heißt und aussieht, wie ein Wellensittich, dann hat man nicht wenig Freunde.
Dann hat man es sehr, sehr schwer.
Helfgott selbst machte stets ausschließlich seinen blöden Namen für seine Situation verantwortlich. Er zog dann eines Tages weit fort, was zeitlich ungefähr mit einem tragischen Unglück zusammenfiel, welches das plötzliche Verscheiden seiner beiden Eltern und dem Pfarrer von Luettentrop zur Folge hatte.
Die berühmten letzten Worte von Vadder sollen gewesen sein: “Ich glaube, wir haben uns alle in ihm geirrt.” Die von Mudder Pannenbecker lauteten angeblich: “Du hättest ihn öfter aus der Voliere lassen sollen.” Diese Worte gaben allen ein Rätsel auf und konnten nicht mit bekannten lebenden Personen in Verbindung gebracht werden.
Vielleicht hätten die drei gerettet werden können, aber leider fand ausgerechnet an diesem verhängnisvollen Abend der große Feuerwehrball der freiwilligen Feuerwehr Groetentrop stattfand, so dass niemand entsprechend abkömmlich war.
Es gab eine letzte gründliche Aussprache unter den Geschwistern, bevor Helfgott wegging. Da er freiwillig auf den Pflichtteil seines Erbes verzichtete, stellten ihm jedoch weder Brüder noch Schwester weitere Fragen. Hannibal, der den Hof erbte, sowie Hector und Nic, die ausgezahlt wurden, verabschiedeten ihn mit einem lapidaren “Tja, das war’s dann wohl.” Helfgott nickte nur und gab ihnen nicht mal die Hand zum Abschied.
In erster Linie tat er dies nicht, weil seine Hände kompliziert gebrochen waren.
Hector zog an die Donau in den Ort Deppenhausen bei Ehingen, wo er am Wegrand in einem Waldstück eine Einsiedlerhütte baute und Bücher schreiben wollte. Die Straße heißt “Zum Kasperberg“ (beides gibt es wirklich!). Einige Leute vermuten, dass sein Leben nicht leichter geworden ist. Wer möchte sich schon gerne bei einem Verleger so vorstellen: “Guten Tag! Mein Name ist Helfgott Pannenbecker, ich wohne in Deppenhausen, Zum Kasperberg.”
Soweit so gut, was soll ich sagen, natürlich freuten sich alle riesig über die Geschenke von Hector und von uns, wobei wir beteuerten, dass diese völlig kostenlos gewesen seien und ganz von Herzen kämen und dass sich deswegen niemand zu Gegengeschenken verpflichtet fühlen müsse. Obwohl Hectors Freude über den Schinken sich in Grenzen hielt, aber Überraschungsgeschenke bergen eben immer das Risiko einer Enttäuschung in sich.
Und am Ende gab es dann auch noch ein vorgezogenes Sylvester-Feuerwerk. Nic hatte ihre Kamikaze-Ausrüstung nämlich im Flur an der Garderobe aufgehängt und Pascal hatte Öppa davon überzeugen können damit “Raketen-Öppa” zu spielen. So kam es, dass in den darauffolgenden Tagen Dörfler aus Luettentrop Stein und Bein schworen, sie hätten an diesem Weihnachten den Stern von Bethlehem gesehen. Wenn sie auch sagten, dass sie sich gewundert hätten, wieso er “Höhöhöhö, jajajaja!“ rief.