Horatio XVII/1

Horatio schrieb:

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein. (Hermann Hesse)

Leben im Nebel

Nach dem Schnee kam die Nässe und der Nebel. Bei dem Wetter wird einem trotz der schönen Gegend landschaftlich nicht gerade die beste Abwechslung geboten, da man die Landschaft dann ja nun mal nicht sehen kann. Der Nebel hat in dieser Gegend schon eine besondere Qualität und in etwa die physikalische Dichte von Blei. Und genau so kann der Nebel auch auf empfindlichen Gemütern lasten – wie Blei. Nun gut, im Moment, da ist hier draußen auf dem Land irgendwie jeder Tag wie der andere, aber es ist okay, wirklich. Ist ehrlich total okay für uns.

Wir sind zufrieden. Doch, doch.

Dumdidum…

Verzeihen Sie, mein Herr? Nein, wir sind absolut total zufrieden. Was? Ach so, danach hatten Sie gar nicht gefragt.

Trotz des Nebels müssen die Tiere gefüttert und die Ställe gesäubert werden. Wie schön, dass mir in letzter Zeit die Arbeit durch die anregende Unterhaltung zweier Pferde erleichtert wurde, Parmenides und Popper. Als ich vorgestern morgen im Stall zugange war hörte ich Parmenides erklären:

„…wenn Menschen Götter hätten, würden sie wie Menschen aussehen.“

„Menschen haben keine Götter.“ behauptete Popper.

„Das weißt Du gar nicht. Außerdem: W e n n sie Götter h ä ä ä t t e n“

„Ich vermute, dass sie keine Götter haben.“

„Eine Vermutung ist aber kein Beweis.“

„Man kann überhaupt nichts beweisen. Alles basiert auf Vermutungen.“

„Ja, aber dass ich denke, ist doch ein Beweis, dass ich bin.“

„Die Prämisse ist falsch.“

„Welche?“

„Das du denkst.“

Darauf kriegten sich die beiden eine Weile vor Wiehern nicht mehr ein.

„Der war gut.“ meinte Parmenides noch mit Tränen in den Augen.

„Wer?“

„Der Witz.“

„Ich habe keinen Witz gemacht.“

„Wie jetzt?“

„Ich vermute, du denkst nicht. Du existiert vielleicht gar nicht. Nur in meiner Einbildung.“

„Pass mal auf, Popper!“

„AUA!“

„Ha!“

„Warum hast du mich getreten?“

„Ich hab dich nicht getreten.

„AUA! Schon wieder!“

„Das existiert nur in deiner Einbildung.“

„AUA! AUA! Pferd, hör auf!“

„Dein Schmerz ist nur eine Vermutung!“

„Du Grobian! Mit dir rede ich gar nicht mehr.

„Dann lass es. Ich existiere sowieso nicht.“

„Tu ich auch.“

„Bitte.“

„Pffft!“

Dann war Funkstille. Lustlos mümmelten die beiden auf ein wenig Heu herum und schauten beleidigt in verschiedene Richtungen.

Nachdem ich mit dem Stall fertig war, setzte ich mich an den Küchentisch. Nic machte uns einen heißen Trum und ich nahm mir eine Tageszeitung von Januar 1964 vor. „Was steht drin?“ fragte Nic

„Der amerikanische Präsident Kennedy ist tot.“

„Oh, wirklich?“

„Ja, schon länger.“

„Da sieh mal einer an.“

„Nicht wahr? Erschossen!“

„Ist seine irische Familie nicht während der Prohibition groß geworden?“

„Genau.“

„Immer trifft es die guten Leute.“

Ich blickte über den Rand meiner Zeitung.

„Ist dir langweilig, Nic?“

„Nö, wieso?“

„Weil du gerade den Mann mit dem Goldhelm in die Butter zeichnest.“

„Och. Hab ich gar nicht gemerkt.“

Schweigen.

„Horatio.“

„Hm.“

„Manchmal. Nicht oft, sondern ganz selten, aber manchmal, so in bestimmten Momenten, manchmal im Winter zum Beispiel…“

„Komm zur Sache.“

„Da hätt ich schon gern ein Fhmsnrgrt.“

Ich sah, das Nic mit dem linken Fuss scharrte, was bedeutete, dass sie ungewöhnlicherweise verlegen sein musste. Aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wieso.

„Was?“

„Ein Frmschrgert?“

„Hä?“

„Na gut, ich sag es frei heraus: ein FRÄMSEGRÄT! So.“

„Meinst du ein Fernsehgerät?“

„Ja. Sag ich doch. Ein Främsegrät!“

„Wir haben doch noch nie eins gebraucht.“

„Jetzt in diesem Moment hätte ich aber gerne eins.“

Ich konnte es nicht fassen: “Nic! Da sind schreckliche Sachen drin. In Luettentrop haben manche so was. Ich hab da mal reingeguckt und da habe ich … wie hießen die noch mal? Florian Silbergreisen und Hansi Hinterlader – die waren da in dem Gerät und ich sage dir: Das willst du nicht sehen!“

„Ja, aber trotzdem.“

Ja, aber trotzdem – wie konnte ich diesem stichhaltigen Argument etwas entgegensetzen? Ich schaute aus dem Fenster und betrachtete das kalte Grau.

„Na gut, sagte ich. Wenn Du unbedingt willst, fahren wir in die Stadt und kaufen dir eins.“

„Juchuh! Wir kaufen ein Fämsegrät“ schrie Nic, warf sich auf mich, drückte mir einen Kuss auf die Wange zerdrückte mich fast und rannte in Richtung Diele. „Ich zieh mich an!“

Dies mochte der Beginn eines großen Abenteuers sein.

Fortsetzung folgt