Horatio schrieb:
Akklimatisation in der Regionalbahn
Bei dem Zug, mit dem wir sozusagen transportiert wurden, handelte es sich um eine doppelstöckige sogenannte Regionalbahn. Als erst mal alles wieder zur Ruhe gekommen war, stand niemand außer Nic und mir mehr auf den Gängen. „Zur Ruhe gekommen“ kann man eigentlich nicht so richtig sagen, aber wenn man von den lauten Klingelmelodien der Mobiltelefone, lauten elektronischen Tastentönen, lauter Musik aus Kopfhörern, laut raschelnden Boulevardzeitungen und lauter lauten Gesprächen ohne Inhalt mal absieht, war es richtig ruhig. Zumindest machten die Klimaanlage oder die Heizung keine Geräusche, denn sie schienen kaputt zu sein. Gut, unsere Geruchsnerven wurden hier etwas verstört und das will sicher was heißen, wenn man die Gülleperioden aus unserer Gegend gewohnt ist. Wir fanden es immerhin bemerkenswert, dass unser Bahnwagen gar nicht so voller Menschen war, wie es beim Einsteigen den Anschein gehabt hatte.
Auch das ist physikalisch ganz einfach erklärbar. Ich meine das war ungefähr, wie wenn Moleküle in Schwingung versetzt werden und sich ganz doll bewegen, dann entsteht Wärme und das Volumen wird größer, was auf Kosten der Dichte geht oder so ähnlich. (Deswegen soll man nicht zu oft heftig den Kopf schütteln. Doch, das ist wahr, hat Nic gesagt. Genau, in ihrer unermesslichen Weisheit. Aber sie sagte auch, allgemein sollte man ruhig in Bewegung bleiben, da sich sonst das Universum nicht mehr ausdehnt und in sich zusammenfallen könnte, theoretisch zumindest.) Da die einsteigenden und aussteigenden Fahrgäste ordentlich Schwung hatten, waren sie in Schwingung geraten. Von der Reibungshitze wollen wir mal gar nicht reden. Jetzt, als keiner mehr schwang (?) … schwong (?) … schwingte (?)… swingte (!) … ja, äh, da reduzierte sich das Fahrgastvolumen wieder. Die wiederum sich erhöhende Dichte zeigte sich offenbar dadurch, dass kein Sitzplatz mehr frei war. Obwohl man nicht sagen konnte, dass alle Sitzplätze besetzt waren. Wie kann das sein? Das Verhältnis vorhandene Sitzplätze zu Sitzenden betrug geschätzt 3:1, trotzdem war hier kein Sessel mehr frei. Nic und ich hatten wieder etwas wichtiges darüber gelernt, wie man sich als professioneller und verantwortungsvoller Bahnfahrgast verhält:
Nachdem man in den Zug stürmend, mit den Ellbogen auf Gesichtshöhe die Verursachung etwaiger Joch- und Nasenbeinbrüche in kauf nehmend, die Miteinsteigenden gewaltsam beiseite drängend, den Vordermann schubsend und laut „Ich war vor Ihnen!“ brüllend, es unter Umständen geschafft hat einen Zweiersitzplatz zu erobern, setzt man sich auf jeden Fall auf die Seite zum Gang, niemals an den Fensterplatz. Den Sitzplatz am Fenster stellt man sofort mit allem was man hat zu, also Tasche, Rucksack, Einkaufstüte, Mantel, Schuhe, Hut. Eklige Sachen sind auch gut, beispielweise angebissene, fettige Thunfischwraps, vollgerotze Taschentücher oder ein Gebiss. Bei Viererplätzen verteilt man seine sieben Sachen auf drei der Sitzplätze und legt die Füße auf den vierten Platz. Sollte ein zu spät kommender Fahrgast auch nur ansatzweise verlangend in Richtung des Fensterplatzes schauen, stellt man sich entweder schlafend oder schaut ihn so bitterböse an, dass er auf keinen Fall auf die wirklich saudumme Idee kommt, höflich zu fragen, ob dieser Sitzplatz möglicherweise noch frei sei. Wenn sich irgendein Hanswurst sich nichtsdestotrotz dazu erdreistet, verdreht man freilich die Augen und ändert den Gesichtausdruck in eine Mimik, die vermittelt: „Boah, wie bescheuert, begriffsstutzig und nervig kann man sein?“ Dazu äußert man dann verbal laut: „Nein! Das sieht man doch!“ Wirksam ist auch „Klar, Mann. Ich bin heute morgen wegen guter Führung entlassen worden. Sechzehn Jahre sind schon eine lange Zeit und würde gern mit jemand bei einer Dose Pils drüber reden.“
Nic und ich beschlossen, diese Verhaltensweisen zukünftig entsprechend zu berücksichtigen.
Wir befanden uns auf der unteren Ebene des Wagons. Weil wir ja nun auch gerne sitzen wollten und zwar nebeneinander, gingen wir den Gang entlang auf der Suche nach zwei freien Plätzen. Links war ein Viererplatz, den ein Mann mit zwei Koffern und seinen Füßen ganz besetzt hielt. Er trug einen billigen schwarzen Anzug von der Stange und braune Lederschuhe eines Discountschuhgeschäftes, die aussahen, als sei die Spitze abgeschnitten worden. Was die lachsfarbene Krawatte anging – eine Postkarte von Dresden nach dem 2. Weltkrieg ist geschmackvoller. Auf seinem Schoß lag quer aufgeklappt eine Art großes flaches Buch und er tippte mit seinen Fingern auf die untere Seite davon, als ob er mit einer Schreibmaschine schriebe. Zwei Schritte weiter sahen wir, dass die Unterseite des Buches tatsächlich wie eine Tastatur aussah und dass sich auf der Oberseite bunte Bilder bewegten. Fasziniert blieben wir stehen „Oh! Ist das eine Art Fämsegrät?“ fragte Nic mit leuchtenden Augen.
Der Mann sah kurz mürrisch hoch und wandte sich dann wieder den bewegten Bildern zu. Das Buch erinnerte wirklich an ein sehr, sehr flaches Fernsehgerät. Nic schien begeistert: „So was hab ich noch nie gesehen. Wo kriegt man so was?“
„Kann man kaufen.“ brummelte der Herr leise, ohne sich uns dabei wieder zuzuwenden.
Nic hob seine Beine kurz hoch, ich nahm die Koffer von den Fensterplätzen und stellte sie an den augenscheinlich dafür vorgesehenen Ort unter den Sitzen. Ein Aufkleber wies jedenfalls darauf hin. Dann nahmen wir am Fenster platz und Nic legte seine Füße wieder auf dem ihm gegenüberliegenden Sitzplatz. Der Mann wirkte kurz verstört, sagte aber nichts und schien irgendwie zu schrumpfen.
„Ich krieg auch ein Fämsegrät.“ sagte Nic zu ihm. Keine Antwort.
„Deswegen fahren wir auch in die Stadt.“ Wieder keine Antwort.
„Dann ist mir nicht mehr so langweilig.“ Die Botschaft schien nicht angekommen zu sein.
„Haben Sie vielleicht ein irgendein Hätsät oder ein Grät?“ fragte Nic vorsichtig.
Jetzt reagierte er: „Nein, habe ich nicht. Hören Sie! Was wollen Sie? Ich habe einen langen Arbeitstag und einen wichtigen Geschäftstermin vor mir. Ich habe weder Zeit noch Lust, mich mit irgendwem zu unterhalten.“
Nic zog kurz ihre Augenbrauen hoch und schob die Unterlippe vor. „Sie sind aber sehr unhöflich.“
„Das sagen sie? Sie haben einfach ohne zu fragen meine Koffer weggestellt!“
Dem geneigten Leser, der Nics Einstellung zu den Dingen im allgemeinen bereits etwas kennen gelernt hat, mag aufgefallen sein, dass Nic im besonderen diese Art von Diskussion nicht sehr schätzt.
5 Minuten später.
„Ist es so bequem?“ fragte Nic.
„Ja doch sehr. Danke der Nachfrage.“ sagte der Mann im billigen Anzug von der Stange.
„Ich kann noch etwas Platz für sie schaffen.“
„Nicht nötig.“
„Echt nicht?“
„Nein, das ist die gemütlichste Gepäckablage, in der ich je gelegen habe.“
„Wie schön! Haben Sie schon in vielen Gepäckablagen gelegen.“
„Äh, nein, nicht dass ich mich erinnern könnte.“
„Sie fallen auch nicht da runter?“
„Schwer zu sagen. Ich kann mich nicht festhalten, weil meine Hände stark angeschwollen sind, nachdem Sie mein Läbtobb zusammengeklappt haben.“
„Sie hätten sie vorher wegziehen sollen.“
„Sicher, sicher.“
„Das Läb… Fämsegrät ist leider kaputt gegangen.“
„Nicht so schlimm.“
Nic saß in Fahrtrichtung und schaute aus dem Fenster. Ich hörte gerade der gruseligen Hip Hop Musik zu, die vier Reihen hinter uns aus einem Kopfhörer dröhnte und versuchte den Text zu verstehen. Das heißt, die Worte waren gut zu hören und verstehen, aber der Sinn nicht. Dann tippte mir jemand auf die Schulter. „FAHRKARTE!“
Fortsetzung folgt