Horatio XVII/6

Horatio schrieb:

Sperrfeuer der Unhöflichkeiten

Als ich hochblickte, sah ich einen streng dreinblickenden Mann in blauer Uniform mit roten Aufschlägen und Schirmmütze. „Sie müssen der Schaffner sein!“ sagte ich zu ihm.

„Was Sie nicht sagen! FAHRKARTE!“

Etwas ratlos und stumm blickte ich ihm in die Augen. Er schien mit „Fahrkarte“ etwas zu sagen, dass ihm selbstverständlich erschien, allein war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, was das sein sollte. Das war ungefähr so wie mit den Texten dieser Hip Hop Musik. Nic kam mir zur Hilfe: „Brauchen Sie was oder wollen Sie uns was verkaufen? Vielleicht einen Fahrplan oder eine Landkarte?“

„Wollen Sie mich verarschen?“ herrschte der Uniformierte uns an „Haben Sie jetzt einen Fahrschein oder nicht?“

„Ich denke, wir haben nicht das, was Sie von uns wollen.“ meinte Nic ärgerlich.

„Also, dann wollen wir mal. Kein Ticket kaufen, schön schwarzfahren und dann auch noch frech werden. Hier! Füllen Sie diesen Zettel aus! Name, Vorname, Adresse, wo Sie hinfahren. Jeder von Ihnen zahlt dann 40 Euro erhöhtes Fahrentgelt! Außerdem weisen Sie sich aus!“

„Wir fahren in die Stadt um mir ein Fämsegrät zu kaufen. Alles weitere geht Sie gar nichts an. Ich habe langsam die Nase voll von unhöflichen Leuten. Erst sagen Sie nicht mal „Bitte“, dann beantworten Sie Fragen mit Gegenfragen, das alles in einem sehr unangebrachten Ton und jetzt sollen wir auch noch irgendwas was bezahlen. Wieso haben Sie es ausgerechnet auf uns abgesehen? Wieso meckern Sie nicht den da an, der seine dreckigen Schuhe auf dem Sitz liegen hat? Oder die ganzen Leute, die hier total laut ihre Musik laufen haben?“

Der Schaffner wollte scheinbar gerade ansetzen, etwas auf Nics Ausführungen zur Höflichkeit und Fragen zur Gerechtigkeit zu erwidern. Er schätzte meines Erachtens die Situation ersichtlich günstiger für sich ein, als es tatsächlich der Fall war. Zum Beispiel konnte er nicht wissen, dass Nic in diesem Moment noch Politik betrieb, die sie normalerweise bereits mit anderen Mitteln fortgeführt hätte. Bevor er jedoch zu sprechen anhub, wanderte sein Blick nach oben. Dort sah er einen Mann im billigen Anzug von der Stange, der es sich in der Gepäckablage bequem gemacht hatte. Der winkte ihm mit der linken Hand abwehrend zu, legte den rechten Zeigefinger auf den Mund und schüttelte heftig seinen Kopf dabei.

Dem Uniformmann klappte die Kinnlade runter.

Nic begann jetzt mit dem rechten Fuß zu scharren und ihr Gesicht bekam überdies Farbe. „Was ist jetzt? Krieg ich nicht mal eine Antwort?“

Scheinbar nicht. Oder jedenfalls nicht rechtzeitig genug. Wer das nicht für einen Grund hält, jemanden zwei Finger in die Nasenlöcher zu rammen, ihn am Ohr nah an sich heran zu ziehen und auf sehr bestimmte Art eine Entschuldigung von ihm zu fordern, kann gerne versuchen, Nic einmal mit sachlichen Argumenten davon zu überzeugen. Man sollte dann aber ein Mensch sein, der gut mit Enttäuschungen umgehen kann.

„Enoulligon!“ blubberte der Schaffner.

„Ich kann dich nicht verstehen.“ knurrte Nic.

„ENNOUULLIGONG!!!“

„So besser? Noch mal!“ Nic zog ihre Finger aus seiner Nase, ohne allerdings sein Ohr loszulassen.

„Entschuuuuldiguuuuung!“ heulte der Schaffner.

„So geht das nicht! Du musst es nicht nur einfach sagen, du musst es so sagen, dass du es auch meinst!“

Jetzt tat er mir doch ein wenig leid.

Ehrlich gesagt tat er mir gar nicht so richtig leid, aber sein Geheule und Gezappel ging mir auf die Nerven. Darum beugte ich mich zu ihm hinunter und flüsterte ihm ins Ohr, wie man sich bei Frauen so entschuldigt, dass es den gewünschten Erfolg hat. Frauen sprechen ja bekanntlich eine andere Sprache als Männer. Wenn ein Mann zu einem anderen Mann „Entschuldigung!“ sagt, versteht der andere Mann „Entschuldigung.“ Wenn ein Mann zu einer Frau „Entschuldigung!“ sagt, versteht die Frau „Ich sage ‚Entschuldigung’, weil du es hören willst und damit ich meine Ruhe habe, ansonsten werde ich alles beim nächsten mal ganz genauso machen und außerdem habe ich Recht.“ Das geht natürlich für die Frau gar nicht. Wie eine Frau sich bei einem Mann entschuldigt? Das weiß man nicht, weil es bisher keinen überlieferten Bericht von einem solchen Fall gibt.

Nun versuchte der Schaffner sich so bei Nic zu entschuldigen, wie ich es ihm gesteckt hatte: „Ich bin ein Wurm! Ich bin untröstlich darüber, dass ich Ihre Gefühle verletzt habe! Sie haben allen Grund zornig zu sein und mich zu verachten. Eine solche Behandlung haben Sie wirklich nicht verdient. Ich weiß, dass ich es nicht wieder gut machen kann, aber ich werde in Zukunft alles unternehmen, dass ein solches Fehlverhalten meinerseits niemals wieder vorkommt. Ich bin ein Wurm.“

Tja, was soll ich sagen? Das funktioniert.

Nic ließ ihn jetzt laufen und lehnte sich wieder in den Sitz zurück. Der Mann, dessen Nase und Ohr inzwischen die blaurote Farbe seiner Uniform angenommen hatte, sah zu, dass er so schnell wie möglich in den nächsten Wagon kam, wobei er irgendwas von „Sicherheitsdienst“ brabbelte.

Nic und ich schauten wieder aus dem Fenster und sahen, dass wir langsam dichter besiedelte Gebiete erreichten.

Etwa fünf Minuten später tauchte der Schaffner wieder auf. Er war nicht allein, mit ihm kamen zwei ebenfalls uniformierte, vermutlich kleinasiatische Muskelpakete, Höhe mal Breite circa 1,95 Meter. Sie steuerten direkt auf uns zu.

„Oh, zwei Gorillas.“ meinte Nic, als sie sich vor uns aufbauten.

„Ey, escht? Wo?“ fragte der eine von ihnen und schaute sich im Wagon um.

„Und sie sprechen sogar!“ Nic fing an zu lachen.

„Ey passaufalte ey wennustressmachs kriechsuübertrieben aufsmaul ey. Issas klar?”

Nic schaute mich fragend an „Was hat er gesagt?“

„Keine Ahnung, aber ich denke, er spricht unsere Sprache nicht.“

Sie wandte sich wieder dem Muskelpaket zu: „Ich habe Sie nicht verstanden.“

„Ey obdu auffe fressewills duhass meinkollege hierabgezogen oderwas?“

Nic zuckte mit den Schultern „Ich verstehe kein Wort.“ Dann beugte sie sich zu ihm rüber und sagte bemüht langsam, laut und deutlich: „IIST NIICHT SCHLIIMM! WIIR SIIND SEELBEER AAUUCH FREEMD HIIEER!“

Dabei fiel ihr mit etwas Gepolter der Elefantentöter aus der Latzhose, also jene Handfeuerwaffe, die Kaliber .600 Nitro Express verschießt.

Nic bückte sich und hob sie auf „Blöd, ist mir runtergefallen. Oh. Wo sind sie hin?“

Der Wagon hatte sich schlagartig gelehrt. Wir waren jetzt nur noch zu dritt: Nic, ich und der Mann im billigen Anzug von der Stange, der in der Gepäckablage steckte.

Mir fiel auf, dass Nic langsam genervt wirkte. „Hab ich irgendwas was falsch gemacht?“ fragte sie den Mann in der Gepäckablage.

„Nicht doch! Ich hätte in jeder Hinsicht genauso gehandelt!“

„Danke.“

„Immer gerne.“

„Geht doch.“ brummte sie. Dann zu mir: „Ich glaub, ich muss mal.“

„Die Toiletten sind alle außer Betrieb. Das habe ich vorhin jemand sagen hören.“

„Macht nichts. Dann halten wir kurz an und ich geh in die Büsche. Ich hab hier so rote Griffe gesehen, das steht „Notbremse“ drauf und wenn ich jetzt nicht gleich auf Toilette kann, dann ist Holland in Not. Wir können ja anschließend sofort weiterfahren. Also komm!“

Sie hatte recht, wofür sollten die Dinger denn auch sonst da sein. Es dauerte zugegebenermaßen ein Weilchen, bis der Zug endlich zum Stehen kam. Die Türen wollten sich zuerst nicht öffnen lassen, aber es stand da eine Gebrauchsanweisung, wie man sie im Notfall durch das Umlegen eines roten Hebels manuell öffnet.

Dann gingen wir in aller Ruhe am Bahndamm in die Büsche. Als wir uns wieder der Regionalbahn zuwandten, sahen wir, dass sie sich offenbar schon ohne uns in Bewegung gesetzt hatte.

„Och nöö, Menno! So’n Mist! Wie sollen wir den jetzt in die Stadt kommen?“ schnauzte Nic dem Zug hinterher.

Die Lösung dieses Problems sollte nicht lange auf sich warten lassen.

Fortsetzung folgt