Lange Zeit war Rockabilly in erster Linie Männersache – zumindest auf der Bühne. Die Gründe dafür hatten mit Talent kaum etwas zu tun, dafür viel mit der Dominanz traditioneller Geschlechterrollen in den 50er Jahren. Für einen großen Teil der amerikanischen Bevölkerung war es Provokation genug, wie Elvis Presley und Carl Perkins ins Mikrofon röhrten und ihren Körper als Verlängerung der Gitarre einsetzten. Wenigstens aber handelte es sich dabei um Männer. Bei Frauen kam jede Andeutung eines Hüftschwungs in der Öffentlichkeit dem Untergang des Abendlandes gleich. Zu den wenigen, die sich davon nicht abschrecken ließen, gehörte “The Female Elvis” Janis Martin.
Janis Martin als Country-Wunderkind
Als die 1940 in Sutherlin, Virginia, geborene Janis Martin ihren ersten Plattenvertrag unterzeichnete war sie erst 15, aber schon fast ein alter Hase im Musikbusiness. Wie manch anderer Rock’n’Roll-Star wurde sie in eine Umgebung hineingeboren, in der Musik zum Leben gehörte wie das Atmen. Dass sie in einem Alter die Bühne betrat, in dem andere Kinder Fangen spielen, war allerdings nicht unbedingt eine freiwillige Entscheidung. Mit einer Sängerin als Mutter, die früh das außergewöhnliche Talent ihrer Tochter erkannte, blieb Janis Martin kaum etwas anderes übrig, als im zarten Alter von acht Jahren in ersten Talentwettbewerben anzutreten.
5 Jahre später hatte die Jugendliche eine ganze Liste an siegreich absolvierten Wettbewerben hinter sich, dazu Touren und Auftritte gemeinsam mit Künstlern wie dem Honky-Tonk-Pionier Ernest Tubb. Nun, mit 13, trat Martin regelmäßig im Old Dominion Barndance auf. Die Show gehörte neben der legendären Grand Ole Opry zu den größten ihrer Art in den USA und präsentierte mit der Carter Family, Sonny James oder Martha Carson das “Who is Who” der zeitgenössischen Countrymusik.
Dabei zeichnete sich bald ab, dass Country und Bluegrass nicht die größte musikalische Liebe von Janis Martin waren. Am wenigsten galt das für die kitschigen Balladen, die ein fester Teil der heute oft verklärten Countryshows in den 40er und 50er Jahren waren. Stattdessen hatte die junge Sängerin schon früh ihr Herz an den Rhythm’n Blues verloren und ließ diese Vorliebe auch in ihre Auftritte einfließen. Das Publikum des Old Dominion Barndance war damit oft etwas überfordert, wie sich Martin erinnert. Schließlich galten in diesem Folkmusik-Kosmos schon elektrische Instrumente als gefährliche Grenzüberschreitung.
Von “Will You, Willyum” zum “Female Elvis”
Janis Martins große Stunde kam, als Elvis Presley und Carl Perkins die Hochzeit des Rockabilly einläuteten. Genau in diesem Moment landete ein Demo auf dem Tisch von Steve Sholes bei RCA Victor, das diesen dazu veranlasste, umgehend einen Vertrag für eine junge Sängerin aufzusetzen. Dass Sholes beim Anhören der Gedanke kam, die kraftvolle Stimme, die ihm hier entgegenschallte, könnte einer 15jährigen gehören, ist unwahrscheinlich. Das junge Alter von Janis Martin hielt ihn aber auch nicht davon ab, eine Aufnahmesession in Nashville zu organisieren, deren Ergebnisse heute vielleicht zu den Highlights des frühen Rockabilly gehören. Ihr Leiter war übrigens kein geringerer als Gitarrenlegende Chet Atkins. Im Gegensatz zu vielen anderen Countrymusikern hatte der Fingerpicker ein offenes Ohr für Rockabilly.
Der größte Erfolg von Martin war ihre erste Single “Will You, Willyum” mit der Eigenkomposition “Drugstore Rock’n’Roll”auf der Rückseite. Nachdem sich die Scheibe rasant verkauft und Billboard die junge Sängerin als “Most Promising Female Vocalist for 1956” bezeichnet hatte, schienen die Chancen gut zu stehen, dass Janis Martin zum weiblichen Gegenstück des King of Rock’n’Roll wurde. Das galt umso mehr, als sich die Künstlerin nicht nur wegen ihrer beeindruckenden Stimme, sondern auch wegen ihrer Tanzbewegungen von den biederen Popstars ihrer Zeit abhob. Entsprechend ließ es sich RCA nicht nehmen, Janis Martin als “The Female Elvis” zu bewerben, schließlich hatte die Firma das männliche Original auch unter Vertrag. Passend dazu durfte die Sängerin gleich noch einen Song mit dem Titel “My Boy Elvis” aufnehmen,
Das überraschende Karriereende von Janis Martin
Dass aus der Weltkarriere von Janis Martin schließlich doch nichts wurde, brachte zumindest Steve Sholes angeblich an den Rand der Verzweiflung. Es war wohl auch eine böse Überraschung für den RCA-Mann, als sich herausstellte, dass Martin, die bereits mit 15 in aller Heimlichkeit ihre Jugendliebe geheiratet hatte, schwanger war. Damit ging das Konzept vom jungen Teenage Rock Star und weiblichen Elvis nicht mehr auf, eine Tatsache, die Martin selbst weit weniger enttäuschte als ihr geschäftliches Umfeld.
Ganz so unkompliziert war ihre Karriere auch bisher nicht verlaufen. Zum einen war die junge Sängerin gar nicht so glücklich mit ihrem Titel als “Female Elvis”, da sie Carl Perkins eigentlich weit mehr verehrte als den King of Rock’n’Roll, dem sie nur zwei Mal überhaupt begegnete. Außerdem musste sie auf gemeinsamen Touren mit Countrymusikern erfahren, dass diese teilweise eine ausgesprochene Antipathie gegen Rockabilly hegten; selbst Elvis Presley wurde zunächst bei seinem Auftritt bei der Grand Ole Opry ausgebuht. Da war die Entscheidung, sich erst einmal zurückzuziehen und sich ihrem Kind zu widmen, für Janis Martin weniger schwer, als man vielleicht annehmen könnte.
Mit dem Rockabilly Revival zurück auf die Bühne
Ganz verabschiedete sich Janis Martin jedoch nicht von der Musik. Nachdem sie kurzzeitig 1960 ins Studio zurückgekehrt war, um zwei Singles aufzunehmen und sich dann wieder zurückgezogen hatte, gab das Rockabilly Revival in England Ende der 70er Jahre den Startschuss für das Comeback der ehemaligen Teenage-Hoffnung. Plötzlich sah sich Martin vor Massen begeisterter englischer Jugendlicher, die etwa halb so alt waren wie sie und den Rock’n’Roll feierten, als hätte er gestern erst das Licht der Welt erblickt.
2007 starb die Sängerin mit 67 Jahren an Lungenkrebs, nicht ohne kurz vorher noch ein Album aufzunehmen. “The Blanco Sessions” wurde erst 2012 veröffentlicht und klingt, als hätte Janis Martin genau da weitergemacht, wo sie knapp 50 Jahre früher aufgehört hatte. Das ist in diesem Fall alles andere als ein Nachteil.